Zur Arzthaftung wegen Suizidversuch in Psychiatrie

OLG München, Urteil vom 13.01.2011 – 1 U 4927/09

Es gibt kaum einen Suizid in der Psychiatrie, der sich aus der ex post Perspektive nicht hätte verhindern lassen. Man darf daraus aber nicht den Schluss ziehen, dass dieser ex ante hätte verhindert werden können und müssen. Außerdem wäre ein Suizidversuch, wenn ein junger Patient schnell, kraftvoll und entschlossen handelt, ohnehin nur mit massivsten Sicherungsmaßnahmen zu verhindern. Soweit der Arzt den für den Patienten sichersten Weg wählen muss, ist zu bedenken, dass eine psychiatrische Behandlung gerade im Spannungsfeld zwischen Sicherung und Vertrauen angesiedelt ist und dass zum anderen im Rahmen des Vertretbaren auch der übliche Klinikbetrieb gewährleistet bleiben muss (Rn. 43).

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 16.09.2009 wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern die Beklagten nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger nimmt die Beklagten aus Arzthaftung in Anspruch.

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Der am 11.01.1983 geborene Kläger versuchte sich am 03.12.2004 in der elterlichen Wohnung das Leben zu nehmen, indem er sich die linke Halsschlagader aufschnitt. Er wurde anschließend in das Krankenhaus der Beklagten zu 1) eingeliefert, chirurgisch versorgt und am 06.12.2004 in die geschlossene psychiatrische Abteilung verlegt. Die Beklagte zu 2) war dort Stationsärztin, der Beklagte zu 3) als Oberarzt für die Anordnung der erforderlichen Behandlungsmaßnahmen und die Überwachung der Durchführung derselben zuständig. Am 13.12.2004 sollten dem Kläger in der chirurgischen Abteilung die aus der Versorgung der Verletzung vom 03.12.2004 herrührenden Fäden entfernt werden. Anschließend sollte der Kläger noch am gleichen Tag in die geschlossene Abteilung des … für Psychiatrie in München verlegt werden. Der Kläger wurde von einer Pflegekraft in die chirurgische Abteilung begleitet. Auf dem Rückweg vom Chirurgen begann der Kläger plötzlich zu rennen, stieg über die Empore und stürzte sich etwa 4 – 5 m ins Treppenhaus hinab. Der Kläger zog sich dabei schwere Verletzungen, insbesondere einen Schädelbasisbruch und Brüche von Halswirbeln, zu. Als Dauerfolge trat eine halbseitige Lähmung links ein.

3

Der Kläger hat im ersten Rechtszug vorgebracht, dass er in der Klinik der Beklagten zu 1) fehlerhaft behandelt worden sei und es deshalb zum erneuten Suizidversuch vom 13.12.2004 gekommen sei. Er habe außerdem nur in Begleitung einer zweiten Pflegekraft in die chirurgische Abteilung verbracht werden dürfen. Noch besser wäre es gewesen, wenn der Chirurg den Kläger auf der psychiatrischen Station aufgesucht hätte. Der Kläger sei vor der Ausführung zum Chirurgen nicht psychiatrisch untersucht worden, seine Suizidgefährdung sei nicht aktuell überprüft worden. Die letzte ärztliche Untersuchung habe am 13.12.2004 schon 4 Tage zurückgelegen. Vor der Ausführung zum Chirurgen sei auch das verordnete Medikament Zeldox nicht verabreicht worden.

4

Der Kläger hat im ersten Rechtszug beantragt:

5

1.

Die Beklagten zu 1) – 3) werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (Beklagte zu 1): 18.12.2007, Beklagte zu 2) und 3): 26.06.2008) zu bezahlen.

6

2.

Die Beklagten zu 1) – 3) werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 720,14 € zu bezahlen nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (Beklagte zu 1): 18.12.2007, Beklagte zu 2) und 3): 26.06.2008).

7

3.

Die Beklagten zu 1) – 3) werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger für die angefallenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten als Nebenforderung einen Betrag in Höhe von 1.846,72 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz des BGB seit Rechtshängigkeit (Beklagte zu 1): 18.12.2007, Beklagte zu 2) und 3): 26.06.2008) zu bezahlen.

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4.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1) – 3) als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihm aus und im Zusammenhang mit seiner Behandlung durch die Beklagten im Klinikum I. zwischen dem 06.12.2004 und dem 13.12.2004 noch entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergangen sind.

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Die Beklagten haben beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Es habe sich um die erste Behandlung des Klägers in der Psychiatrie gehandelt. Der Kläger habe sich freiwillig in stationäre psychiatrische Behandlung begeben. Die Verlegung des Klägers in das … für Psychiatrie in München wäre auf Wunsch des Klägers erfolgt. Auch eine zweite begleitende Pflegekraft hätte den Suizidversuch des Klägers vom 13.12.2004 nicht verhindern können. Der Kläger sei psychopathologisch untersucht worden. Es habe keine Anzeichen für eine Suizidalität gegeben.

12

Das Landgericht hat ein schriftliches psychiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. W. erholt und den Sachverständigen mündlich angehört.

13

Mit Urteil vom 16.09.2009, dem Klägervertreter zugestellt am 25.09.2009, auf das wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat das Landgericht Ingolstadt die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die am 20.10.2009 eingegangene und am 24.11.1009 begründete Berufung des Klägers.

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Der Kläger bringt vor, dass die Aufnahmeuntersuchung unzureichend gewesen sei.

15

Am 13.12.2004 sei vor der Ausführung zum Chirurgen das verordnete Medikament Zeldox nicht verabreicht worden. Außerdem entspreche die verordnete Dosierung von Zeldox nicht den Herstellerangaben.

16

Am 13.12.2004 habe die letzte fachärztliche Untersuchung des Klägers schon 4 Tage und damit unzulässig lange zurückgelegen.

17

Es sei, zumal ohne vorherige ärztliche Untersuchung, überflüssig gefährlich gewesen, den Patienten zum Fäden ziehen zum Chirurgen auszuführen. Vielmehr hätte der Chirurg die Fäden ohne weiteres auch auf der psychiatrischen Station entfernen können.

18

Der Kläger beantragt:

19

1.
Das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 16.09.2009, Az. 41 O 2233/07, wird aufgehoben.

20

2.
Die Beklagten zu 1) bis 3 werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe ins Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

21

3.
Die Beklagten zu 1) – 3) werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 720,14 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

22

4.
Die Beklagten zu 1) – 3) werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger für die angefallenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten als Nebenforderung einen Betrag in Höhe von 1.846,72 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

23

5.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1) – 3) als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihm aus und im Zusammenhang mit seiner Behandlung durch die Beklagten im Klinikum I. zwischen dem 06.12.2004 und dem 13.12.2004 noch entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergangen sind.

24

Die Beklagten beantragen,

25

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

26

Die Beklagten sind der Auffassung, dass der Kläger während des stationären Aufenthaltes in der Klinik der Beklagten zu 1) kunstgerecht behandelt worden sei. Insbesondere sei der Kläger auch ausreichend ärztlich untersucht worden.

27

Es sei auch davon auszugehen, dass dem Kläger am Morgen des 13.12.2004 vor der Ausführung zum Chirurgen das Medikament Zeldox verabreicht worden sei, jedoch die Dokumentation infolge des Suizidversuches unterblieben sei.

28

Es habe keinen Anlass gegeben, dem Kläger den Kontakt zu seinen Angehörigen zu verwehren. Eine psychiatrisch relevante Konfliktsituation zwischen dem Kläger und den Angehörigen sei nicht erkennbar gewesen.

29

Die Ausführung des Klägers zum Chirurgen am 13.12.2004 sei angemessen gewesen und ordnungsgemäß vorbereitet und überwacht worden.

30

Der Senat hat ein schriftliches Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. W. erholt und den Sachverständigen am 04.03. sowie am 16.12.2010 mündlich angehört. Am 04.03.2010 hat der Senat die Beklagten zu 2) und 3) persönlich angehört.

31

Im Übrigen wird wegen des Parteivorbringens in der Berufungsinstanz auf die Schriftsätze des Klägers vom 24.11.2009 sowie vom 07.04., 19.04., 20.10. und 22.12.2010 sowie auf die Schriftsätze der Beklagten vom 10.02., 15.07. und 08.12.2010 verwiesen.


Entscheidungsgründe

32

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Den Beklagten fällt kein haftungspflichtiger Behandlungsfehler zur Last.

A.

33

I.

1.
Zwar verlangt der Sachverständige Prof. Dr. W., was unterblieben war, dass sich ein Arzt am Morgen des 13.12.2004 vor der Ausführung des Klägers zum Chirurgen beim Pflegepersonal hätte erkundigen müssen, ob sich über das Wochenende in puncto Suizidalität des Klägers Auffälligkeiten ergeben haben. Der Sachverständige hat aber auch ausgeführt, dass die Auskunft des Pflegepersonals, wie aus dessen Eintragungen im Pflegebericht ersichtlich, diesbezüglich negativ gewesen wären und der Kläger sodann in Begleitung zum Chirurgen hätte ausgehen können und dürfen. Es wäre also im Ergebnis so gekommen, dass der Kläger wie tatsächlich stattgehabt zum Chirurgen ausgeführt worden wäre. Der Fehler der behandelnden Ärzte, d.h. die unterbliebene Nachfrage beim Pflegepersonal, hat sich somit auf den tatsächlichen Gang des Behandlungsgeschehens nicht ausgewirkt.

34

Es handelt sich um einen Befunderhebungsfehler, dessen Schadensursächlichkeit nicht nachweisbar ist. Vielmehr steht fest, dass sich auch bei Befragung des Pflegepersonals am tatsächlichen Ablauf nichts geändert hätte.

35

Ein grober Befunderhebungsfehler kommt, abgesehen davon, dass die Beklagten aus den vorgenannten Gründen den Nachweis führen könnten, dass dieser nicht schadensursächlich geworden wäre, nicht in Betracht. Selbst der Sachverständige hat den vorgenannten Befunderhebungsfehler erst in zweiter Instanz nach nochmaligem Überdenken des Behandlungsgeschehens konstatiert. Daraus ist ersichtlich, dass es sich nicht um einen Mangel des Behandlungsgeschehens handelt, der schlichtweg nicht passieren darf, sondern vielmehr um ein eher dezentes Fehlverhalten.

36

Ein grober Behandlungsfehler ergibt sich auch nicht mittelbar. Ein reaktionspflichtiger Befund ist nicht hinreichend wahrscheinlich. Vielmehr steht fest, dass sich kein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte.

37

2.
Im Übrigen stützt der Sachverständige die Verpflichtung zur Nachfrage beim Pflegepersonal vor der Ausführung am Morgen des 13.12.2004 ohnehin nur auf den Vermerk der Beklagten zu 2) vom Donnerstag den 09.12.2004, dass auf raptusartige Durchbrüche geachtet werden muss. Wenn dieser Vermerk, der auf eine erhöhte Suizidgefahr hinweisen kann, nicht bestünde, würde der Sachverständige für den Morgen des 13.12.2004 eine Ausführung zum Chirurgen ohne weitere Nachfrage zulassen. Es hat sich im Laufe des Verfahrens herausgestellt, dass der vorgenannte Vermerk der Beklagten zu 2) auf einer Fehleinschätzung des ersten Suizidversuches des Klägers vom 03.12.2004 fußt. Die Beklagte zu 2) hat bei ihrer Anhörung durch den Senat am 04.03.2010 (Seite 4 des Sitzungsprotokolls) angegeben, dass ihr Hinweis auf raptusartige Durchbrüche darauf beruht, dass der Versuch des Klägers vom 03.12.2004, sich durch Aufschneiden der Halsschlagader mit einem Messer das Leben zu nehmen, auch raptusartig erfolgt sei. Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat sowohl im Termin vom 04.03.2010 als auch am 16.12.2010 dagegen erläutert, dass der Suizidversuch vom 03.12.2004 nicht als raptusartig einzuordnen ist. Der raptusartige Suizidversuch zeichnet sich dadurch aus, dass zwischen Suizidgedanken und dessen Durchführung keine Zeit vergeht, vielmehr der Selbsttötungsgedanke sofort in die Tat umgesetzt wird. Da der Kläger am 03.12.2004 einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, hat es sich seinerzeit nicht um einen raptusartigen Suizidversuch gehandelt.

38

Damit ergibt sich auch schon deshalb keine Haftung, weil der Hinweis, dass auf raptusartige Durchbrüche zu achten sei, nicht der objektiven Sachlage entsprochen hat und damit nach der objektiven Sachlage am 13.12.2004 auch nicht bei den Pflegekräften nachgefragt werden musste.

39

3.

Eine ärztliche Untersuchung des Klägers vor der Ausführung zum Chirurgen am Morgen des 13.12.2004 verlangt der Sachverständige ausdrücklich nicht. Vielmehr wäre diese nur indiziert gewesen, wenn eine Nachfrage beim Pflegepersonal Auffälligkeiten zutage gefördert hätte.

40

Es ist dem Kläger zuzugeben, dass sich der Sachverständige im Gutachten vom 13.09.2010 diesbezüglich teilweise noch restriktiver geäußert hatte. Der Sachverständige hat aber bei der mündlichen Anhörung vom 16.12.2010 eindeutig klargestellt, dass er zwar für den Morgen des 13.12.2004 eine ärztliche Einschätzung verlangt, die tatsächlich stattgehabte pflegerische Bewertung somit nicht ausreicht, er jedoch nicht verlangt, dass die ärztliche Einschätzung auf der Untersuchung des Patienten beruht.

41

Die mündliche Anhörung des Sachverständigen dient nicht zuletzt dazu, im unmittelbaren mündlichen Dialog von Gericht und Parteien mit dem Sachverständigen eine Präzisierung und Hinterfragung schriftlicher Äußerungen des Sachverständigen, die gerade wegen des unterschiedlichen fachlichen Hintergrundes der Beteiligten mitunter nicht so verstanden werden wie sie gemeint sind, herbeizuführen.

42

II.

Der Sachverständige Prof. Dr. W. hat ausdrücklich und mehrmals festgestellt, dass der Kläger zum Chirurgen ausgeführt werden durfte. Er hat dies überzeugend damit begründet, dass ein vorhergehender externer chirurgischer Nachsorgetermin am 10.12.2004 problemlos verlaufen war und keine Anzeichen für eine erhöhte Suizidalität bestanden, vielmehr beim Kläger positive Anzeichen wie Zukunftsplanung und Hoffnung erkennbar waren. Es darf auch nicht außer Acht bleiben, dass der Kläger durchaus nicht sich selbst überlassen war, sondern in Begleitung eines Pflegers unterwegs war.

43

Soweit der Kläger vorbringt, dass der Chirurg ihn auf der psychiatrischen Station zum Fäden ziehen hätten aufsuchen sollen oder zumindest eine Begleitung durch zwei Personen, die den Kläger unterhaken, angeordnet hätte werden müssen, verlangt der Kläger Maßnahmen, die aus der Sicht ex post nützlich gewesen wären, zu Unrecht als auch aus der ex ante Perspektive erforderlich. Es gibt kaum einen Suizid in der Psychiatrie, der sich aus der ex post Perspektive nicht hätte verhindern lassen. Man darf daraus aber nicht den Schluss ziehen, dass dieser ex ante hätte verhindert werden können und müssen. Vielmehr hat der Sachverständige ausgeführt, dass nach ärztlicher Erfahrung eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patienten die sicherste Suizidprävention darstellt. Dieses Therapiekonzept setzt dem Sicherungsgedanken zwangsläufig Grenzen. Außerdem wäre ein Suizidversuch, wenn ein junger Patient so schnell, kraftvoll und entschlossen wie der Kläger handelt, ohnehin nur mit massivsten Sicherungsmaßnahmen zu verhindern. Soweit der Kläger vorbringt, dass der Arzt den für den Patienten sichersten Weg wählen muss, lässt er zum einen außer Acht, dass seine psychiatrische Behandlung gerade im Spannungsfeld zwischen Sicherung und Vertrauen angesiedelt war und dass zum anderen im Rahmen des Vertretbaren auch der übliche Klinikbetrieb gewährleistet bleiben muss.

44

Restzweifel über das Fortbestehen einer Suizidalität des Patienten können in der psychiatrischen Behandlung nicht ausgeräumt werden. Dazu müsste der Arzt nicht nur die Gedanken des Patienten lesen, sondern diese auch, was nicht einmal dem Patienten selbst möglich ist, antizipieren können. Eine sichere Suizidprophylaxe ist deshalb bei Wahrung der Menschenwürde des Patienten und eines zeitgemäßen Therapiekonzeptes nicht möglich.

45

III.

Im Zusammenhang mit der Medikation des Klägers ergibt sich keine Haftung der Beklagten.

46

1. a)

Der Senat geht davon aus, dass dem Kläger vor der Ausführung zum Chirurgen am 13.12.2004 die verordnete Dosis Zeldox noch nicht verabreicht worden war. Die Verabreichung der verschriebenen Medikamente ist ein dokumentationspflichtiger Vorgang. Da die Einnahme des Medikaments für den Morgen des 13.12.2004 nicht dokumentiert ist, begründet dies die von den Beklagten nicht widerlegte Vermutung, dass das Medikament nicht eingenommen wurde.

47

b)

Der Sachverständige hat jedoch im Termin vom 04.03.2010 dargelegt, dass, da eine um 2 – 3 Stunden verzögerte Einnahme von Zeldox nicht zu einem bedeutsamen Absacken des Wirkstoffspiegels im Blut führt, auch eine Einnahme nach der Rückkehr vom Chirurgen noch in Ordnung gewesen wäre. Folglich ergibt sich insoweit kein Behandlungsfehler.

48

c)

Im Übrigen hat der Sachverständige an dieser Stelle auch dargelegt, dass die volle antipsychotische Wirkung von Zeldox, die auf einer günstigen Beeinflussung des Dopaminstoffwechsels beruht, ohnehin erst nach einem Zeitraum von 2 – 3 Wochen eintritt. Insofern wäre eine fehlerhaft unterbliebene Gabe von Zeldox am Morgen des 13.12.2004 auch nicht ursächlich für den Suizidversuch des Klägers geworden. Jedenfalls könnte der Kläger den Ursachenzusammenhang nicht beweisen.

49

d)

Der Sachverständige hat im Termin vom 04.03.2010 auch dargelegt, dass es kunstgerecht war, in der Einschleichphase des Medikaments, um abzuwarten, ob und welche Nebenwirkungen eintreten, die Herstellerangabe zur Dosierung von Zeldox zu unterschreiten.

50

e)

Die Erholung eines pharmakologischen Gutachtens war nicht veranlasst. Der Sachverständige ist als erfahrener Facharzt und Professor für Psychiatrie dazu prädestiniert, Indikation, Anwendung, Wirkung und Wirkungsweise psychiatrischer Medikamente zu beurteilen.

51

Darüberhinaus ist das Behandlungsgeschehen ohnehin unter dem Blickwinkel des psychiatrischen Facharztstandards zu bewerten. Diesen kann nur der gerichtliche Sachverständige nicht aber ein Pharmakologe dem Senat vermitteln.

52

2.

Der Sachverständige hat im Gutachten vom 13.09.2010 überzeugend dargetan, dass eine Medikation des Klägers mit Clozapin nicht indiziert und noch weniger zwingend war. Der Sachverständige hat vielmehr Clozapin, dem wie anderen Psychopharmaka keine primäre antisuizidale Wirksamkeit zugeschrieben werden kann, wegen der massiven Nebenwirkungen als Substanz der 2. und 3. Wahl eingestuft, die eher für chronisch psychosekranke Menschen, die auf kein anderes Neuroleptikum ansprechen, geeignet ist.

53

IV.

Der Sachverständige hat im Termin vom 04.03.2010 dargelegt, dass die Behandlung des Klägers vom 07.12. bis zum 13.12.2004 den normalen klinischen Ablauf spiegelt. Der Sachverständige hat auf Seiten 18, 19 des Gutachtens vom 13.09.2010 eingehend dargelegt, dass der Kläger nicht, wie behauptet, vernachlässigt, sondern vielmehr ordnungsgemäß und hinreichend dicht ärztlich und pflegerisch betreut wurde. Zudem hat die Beklagte zu 2) am 04.03.2010 glaubwürdig angegeben, dass sie mit dem Kläger weitere, nicht dokumentierte Gespräche geführt hat. Bereits auf der Chirurgie waren vom Beklagten zu 3) und Dr. S. mit dem Kläger zwei konsiliarische psychiatrische Gespräche geführt worden.

54

V.

1.
Der Sachverständige hat im Termin vom 04.03.2010 dargelegt, dass echte Konfliktpersonen – Scheidung, Betrug u.ä. – vom Patienten ferngehalten werden sollten. Die Eltern des Klägers und dessen ehemalige Freundin waren nach Einschätzung des Sachverständigen keine Konfliktpersonen in diesem Sinne. Insofern mussten sie auch nicht vom Kläger ferngehalten werden.

55

2.

Darüber hinaus hat der Sachverständige auch dargelegt, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Besuche von Eltern und ehemaliger Freundin suizidfördernd waren. Insofern könnte der Kläger auch den Ursachenzusammenhang zwischen den Besuchen und dem Suizidversuch vom 13.12.2004 nicht beweisen.

56

VI.

Der Sachverständige hat die Einschätzung der Beklagten zu 2), dass der Kläger seinen Suizidentschluss aufgegeben hatte, im Hinblick darauf, dass der Kläger selbst von einer zweiten Chance gesprochen hat, der Kläger Kontakt zu seinen Angehörigen hatte und Vorbereitungen für eine Verlegung nach München getroffen worden waren, gebilligt.

57

Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich festgestellt, dass nach seiner 30-jährigen praktischen beruflichen und umfangreichen wissenschaftlichen Erfahrung eine in Aussicht stehende geschlossene psychiatrische Unterbringung als ausschlaggebendes Suizidmotiv nicht in Frage kommt.

58

B.

Es besteht kein Anlass, gemäß § 412 ZPO ein psychiatrisches Obergutachten zu erholen. Der Sachverständige Prof. W. hat seine Ausführungen nach sorgfältiger Auswertung aller Befunde und unter Zugrundelegung zutreffender Anknüpfungstatsachen nachvollziehbar in jeder Hinsicht überzeugend begründet. Er hat sich im Ergänzungsgutachten vom 13.09.2010 auch ausführlich mit dem Standpunkt des Privatgutachters Dr. H. auseinandergesetzt.

59

Die besondere Sachkunde des Sachverständigen Prof. Dr. W. kann nicht in Zweifel gezogen werden. Auch der Privatgutachter Dr. H. schätzt auf Seite 25 des Gutachtens vom 26.10.2009 Prof. Dr. W. als einen der führenden deutschen Suizidologen ein.

C.

60

I.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.

61

II.

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

62

III.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben.

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